Kindheit zwischen Laufstall & Beton

Ich bin im schönen Halle von meine Mutter Gisela geboren worden. Ich war schon überfällig, weil ich nicht wirklich Lust auf diese verrückte Welt hatte. Meine Geburt wurde künstlich eingeleitet, denn unpünktliches Erscheinen wurde in Ostdeutschland nicht geduldet. Natürlich wurden wir DDR-Kinder erstmal von der Mutter getrennt, damit keine gesunde Mutter-Kind Bindung entsteht, denn bindungsgestörtere Kinder sind für der Staat wesentlich leichter zu kontrollieren und zu indoktrinieren. Als meine Mutter mich dann Tage später an die Brust angelegt hatte, kam wegen der vorherigen Trennung natürlich nicht sofort Milch. Sie wurde von den anderen Ärzten überzeugt, das sie halt einfach keine Milch geben kann.

Und sie glaubte diesen Unsinn auch, weil man sich damals nicht auf Youtube informieren konnte und sie ja schon ein komplettes Medizinstudium durchlaufen hatte. Dieses Studium von Fehlinformationen hat mich nicht nur die Mutterbrust gekostet, sondern auch eine kindliche Beziehung mit meiner Mutter, weil sie 6 Monate nach meiner Geburt wieder als Ärztin arbeiten gehen wollte. Es hat mich auch eine gesunde Darmflora gekostet, weil sie mir bei jedem Schnupfen Antibiotika gab. Und mein Immunsystem geschwächt – weil sie mir fast täglich einredete, das ich mir den Tod hole, wenn ich bei „Dem Wetter“ rausgehe.

Abgesehen davon, war meine Mutter aber eine sehr herzliche Frau und hat uns Kinder wirklich geliebt. Nur leider konnte ich das als Kind nicht verstehen, da ich ihre Anwesenheit und nicht ihre Pillen gebraucht hätte. Kurz nach meiner Geburt sind meine Eltern mit mir und meinem Bruder von Halle nach Dresden gezogen, in eine kleine Altbauwohnung, die ihnen aber schnell zu unkomfortabel wurde.

 

Leben im Betonblock

Zu meinem Leidwesen ging es danach in „Die Platte“, wie die Ossis ihre Beton-Schließfacher im fünfstöckigen Plattenbau nannten. Diese siebziger Jahre Tristesse hat schon damals mein ästhetisches Empfinden beleidigt, aber für meine Eltern war es der neue heiße Scheiß. Es gab halt fließend warmes Wasser, Zentralheizung und einen trostlosen Ausblick auf weitere Betonsilos, der meinen Eltern egal war, da sie sowieso fast nie Zuhause waren.

Mein bester Freund Ingo wohnte zum Glück direkt unter mir, und so haben wie wir viel Zeit am offenen Fenster verbracht, erstaunlicherweise ohne ein einziges mal hinaus zu fallen. Wir haben Schrottwichteln mit einem Körbchen an einer Leine gespielt und diverses Spielzeug getauscht.

Einmal klingelte die Polizei an der Tür, weil uns ein Nachbar verpetzt hatte. Dabei hatten wir nur brennendes Klopapier aus dem Fenster geworfen und uns gefreut, wie es langsam am Haus hinunter schwebte. Als mein Vater wütend ins Zimmer stürmte und mich mit einer Mischung aus Verachtung und Unverständnis fragte, wie wir auf solche gefährlichen Ideen kommen – da habe ich wiedermal gemerkt, wie unterschiedlich Kinder und Erwachsene sind. Kinder experimentieren gerne und tun einfach, was ihnen Spaß macht. Erwachsene wollen in allem einen praktischen Nutzen erkennen und alles andere ist zu gefährlich.

Dabei hat mein Vater selbst gerne mit mir experimentiert, und mir zum Beispiel einmal ein weißes Stück Seife in der Badewanne als „Moskauer Eis“ angeboten, weil es fast identisch aussah. Er hat wahrscheinlich nicht mit meiner Naivität gerechnet – ich habe herzhaft hinein gebissen und dann 5 Minuten lang Seifenkrümel ausgespuckt und ihn dafür gehasst. Später habe ich mit meinem Bruder selbst ein chemisches Experiment durchgeführt, in dem wir 10 verschieden Haushalts-Chemikalen zusammen mischten, in der Hoffnung, das irgendetwas explodiert. Aber es hat nicht einmal gebrodelt und Vati war wieder mal stinksauer, als er davon  erfuhr.

 

Die „wilden“ 70er

Mit Ingo bin ich auch über Jahre einmal die Woche zur Christenlehre gegangen. Dieser außerschulische, christliche Unterricht wurde von einem Diakon begleitet, den ich sehr mochte, weil er so schön Klavier improvisieren konnte. Allerdings hat er mich dann später auch sehr enttäuscht, als er meine spirituellen Bücher gemeinsam mit mir verbrennen wollte, weil diese angeblich vom Teufel waren. Ich kann ihn ja auch irgendwo verstehen: Es ist schon doof, wenn die naiv gläubigen Kinder in die Pubertät kommen, zu Denken beginnen und auf einmal die ganze Bibel anzweifeln. Aber ich frage mich bis heute, wie erwachsene Menschen so systemgläubig sein können und Bücherverbrennung als adequates Mittel der Überredungskunst betrachten. Es ist ja nicht nur die Kirche, die Geschichtsrevision, Nudging, Gaslighting und Gewalt als angemessenes Mittel der Beeinflussung nutzen. Es sind ja so ziemlich alles Systeme, die bis zum Äußersten gehen, wenn die anderen zu anders sind und nicht mitspielen wollen. Und klar, die DDR war da ganz vorne mit dabei, wie ich du im Kapitel über Schule und Wehrlager nachvollziehen kannst.

Aber zurück zu meiner ansonsten oft langweiligen Kindheit, in den Siebzigern, 30 Jahre bevor Smartphones und das Internet erfunden wurden. Als Kind gab es nicht viel zu tun, nicht viel zu sehen und Fußball fand ich todlangweilig. Zwei weitere „große“ Ereignisse sind mir deshalb bis heute in Erinnerung: Das erste war, als mein Bruder es schaffte, das Lied „Life is life, nana, nanana“ im Radio mitzuschneiden und dann die Boxen ins offen Fenster stellte um ganz Leuben (das Neubaughetto in dem wir aufwuchsen) damit zu beschallen. Mein Bruder fühlte sich wie der König und ich wie ein halb begeisterter, halb peinlich berührter Mittäter. Das war fast so, wie das eine Mal, als wir unserer Mutter eine Zigarette klauten und diese heimlich in einem engen Durchgang geraucht haben. Mein Bruder hat die ganze Zigarette aufgeraucht und konnte eine Stunde später wegen Übelkeit sein eigene Geburtstagstorte nicht essen. Ich habe nur einen Zug genommen und einen derartigen Hustenanfall bekommen, das ich es nie wieder mit dem Rauchen versucht habe.

Und das zweite einprägsame Ereignis war, als ich eines Tages aus dem Fenster schaute und ein offenes Cabrio mit lachenden Menschen durch das trostlose Neubaugebiet fahren sah. Dieses Bild war zwischen all den grauen Trabis so grotesk und Sehnsucht erzeugend, wie das eine Mal, als es Bananen in der Kaufhalle gab – ohne Rationierung.

Ich habe lange Zeit mit meinem großen Bruder und einem Meerschweinchen zusammen in einem Zimmer gewohnt. Dem Meerschweinchen habe ich einmal versucht beizubringen, das es an einem Puppentisch sitzt und von einem kleinen Teller isst. Hat leider nicht funktioniert. Das Meerschweinchen war auch insofern bedeutungsvoll, da es mir eine Meerschweinchen-Allergie verpasst hat, welche ich erst als Erwachsener erkannt habe. Meine Mutter hat es als Ärztin auch nicht bemerkt. Stattdessen hat sie mir ständig Antibiotika gegen mein „Asthma“ verabreicht und mich im Alter von 5 Jahren ganz alleine zu einer fünfwöchigen Kur geschickt. In der DDR hatte man es nicht so mit dem Mutter-Kind Kontakt.

 

Kind in Käfighaltung

Meine früheste Erinnerung mit ca. 2 Jahren habe ich an ein Mittagessen bei meinem Opa – ich stehe in meinem Laufstall im Nebenraum zum Esszimmer und sehe die Familie durch eine Tür, die sie mir gnädigerweise offen gelassen haben, damit ich mich nicht ganz so einsam fühle. Ich rüttelte and den Stäben des Laufstalls und war total wütend, dass ich da eingesperrt bin und nicht mit beim Essen dabei sein darf. Meine Eltern würden diesen Vorfall mitsamt meinen Einsamkeitsgefühlen natürlich strikt leugnen.

Dummerweise hat mein Vater aber gerne Super 8 Filme mit seiner Aufziehkamera gemacht und so gibt es Filmaufnahmen, wo ich durch die Gitterstäbe des Laufstalls gefüttert werde. Ich stehe drinnen, meine Mutter sitzt draußen und füttert mich so schnell, das ich kaum Zeit zum Schlucken habe und mit panischem Blick in die Kamera schaue. Für meine Eltern war das damals normal, weshalb sie mir auch völlig schambefreit die Aufnahme gezeigt haben. Nach dem Motto: „Guck mal, wie schön du damals aufgegessen hast“. Hach, ich liebe den Sozialismus. Der hat einfach nur die besten Sachen von seinem nationalen Vorgänger übernommen.

Ich weiß nicht, ob mein großer Bruder auch so aufgezogen wurde. Das würde zumindest die immense Wut erklären, die wir beide aneinander abgetragen haben. Das ärgerliche für mich war halt, das ich immer kleiner und schwächer war, obwohl nur 3 Jahre zwischen uns lagen. Ich sehe mich immer noch, wie ich am Boden liege, er auf mir sitzt und meine beiden Arme auf den Boden drückt. Einmal konnte ich mich befreien und bin mit dem Hammer hinter ihm her gerannt. Er hat sich in seinem Zimmer eingeschlossen und so habe ich meine Wut an der billigen Press-Spahn-Tür ausgelassen, die hinterher einige Dellen hatte. Wir haben uns dann wieder verbündet und die Tür mit vielen Aufklebern beklebt, in der Hoffnung, das unsere Eltern nichts bemerken.

 

Meine Ersatzmutter

Da mein Vater ohnehin viel arbeiten war und meine Mutter es ihm gleich tun wollte, wurde ich mit 6 Monaten zu einer Kinderfrau gegeben, die mir als Tante Scheibe (Ihr Nachname) vorgestellt wurde und die mich wie ihr eigenes Kind umsorgt hat. Ich habe sie abgöttisch geliebt, wie ein Kind sonst seine Mutter lieben würde.

Dafür waren meine Eltern eher wie Onkel und Tante für mich, da ich sie ja nur zwei bis drei Stunden am Tag gesehen habe, am Abend, wenn sie mich abgeholt und dann zu Hause ins Bett gebracht haben.

Diese Tante Scheibe hat mich einerseits liebevoll umsorgt, aber mich auch so intensiv fürs Aufessen der Riesenportionen gelobt, das ich eigentlich immer erst aufgehört habe, wenn mein Bauch fast geplatzt ist. Zum Glück hat man mir meine Ess-Störung nie angesehen und sie ist mir eigentlich auch erst nach der Pubertät bewusst geworden, weil ich bei Party-Buffets nicht mit essen aufhören konnte. Wie viele andere Probleme hat sich das mit der Zeit wie von selbst aufgelöst, sobald ich die Ursache erkannt hatte und das Verhalten als unnötig identifizierte.

Tante Scheibe hat auch manchmal krasse Sprüche gebracht wie: „Die Banane musst du unbedingt waschen, die hat in Afrika ein Neger angefasst.“ Das schlimme an der Nazizeit war die Banalisierung von Rassismus und die Normalisierung von Gewalt, so das selbst liebevolle Menschen, wie meine Kinderfrau, davon unterbewusst geprägt wurden. Aber all das waren in meiner Kindheit keine Themen, da es nur alle paar Jahre mal Bananen gab und gelebter Rassismus in der DDR kaum möglich war, wegen mangelnder Einwanderer. Schließlich gab es in Ostdeutschland nichts zu holen und kaum jemand wollte freiwillig aus Afrika in die Armut des Sozialismus immigrieren. Ganz im Gegenteil, die meisten Menschen wollten unbedingt das Land verlassen, und mussten mit Mauer und Schießbefehl davon abgehalten werden.

Ich glaube, das ich es eigentlich ziemlich gut mit meiner herzlichen Ersatzmutter hatte und das ich vom Verstand her meine richtige Mutter nie wirklich vermisst habe. Aber tief im Herzen irgendwie schon. Als eine Freundin mir einmal am Telefon sagte: „Thomas, verstehe es doch endlich, ich habe keine Zeit für dich, ich muss arbeiten.“ hat das einen so endlos tiefen Schmerz in mir ausgelöst, das ich nichts mehr sagen konnte und in die krassesten Tränen meines Lebens ausbrach. Es gibt scheinbar nichts, was die eigene Mutter ersetzen kann, egal wieviel man von der Ersatzmutter gelobt und geherzt und bewundert wird. Und so bequem die moderne Gesellschaft auch sein mag, die ständig arbeitenden Eltern sind ein echtes Problem für Kinder.

 

Sohn und Vater

Die Beziehung zu meinem Vater war auch nicht leicht, weil er selten anwesend war, und meine erste deutliche Erinnerung habe ich an ihn, als er mich mit 7 Jahren in einen Modellbauladen mitnahm und mir ein kleines Flugzeug kaufte, was ich dann selber zusammenbaute.

Damit wurde der Grundstein für jahrelanges Basteln und ein völlig verdrecktes Zimmer gelegt, weil meine Werkbank in meinem Kinderzimmer stand und ich da mit Holz und Laubsäge über viele Jahre an Modellbauflugzeugen und Ähnlichem bastelte. Wahrscheinlich um meinem Vater zu gefallen oder weil man als Kind einfach das nachmacht, was die Eltern vorleben.

Die kleinen Holzreste habe ich oft auf meinem Schreibtisch in Form eines Mini-Lagerfeuers verbrannt. Natürlich auf einer Metallplatte, so das ich es 18 Jahre lang geschafft habe, nie mein Zimmer anzuzünden. Diese pyromanischen Gelüste sind meiner Meinung nach eine natürliche Konsequenz inhumaner Kindeshaltung in einem 9 Quadratmeter Betonsilo. Noch dazu im 5. Stock, wo man halt nicht mal schnell runter geht, um dann nochmal 5 km Fahrrad zu fahren, bis man letztendlich an eine Stelle kommt, wo man relativ ungestört Feuer machen kann.

Eigentlich habe ich meinen Vater hauptsächlich abwesend, wütend und beleidigt in Erinnerung: Er war meist 10 Stunden auf Arbeit, in denen wir Kinder allen möglichen Scheiß machten, von Feuern, über Prügeleien, bis hin zu Kochexperimenten ohne aufräumen. Dann kam er gegen 18 Uhr nach Hause und wurde wütend, weil die Wohnung wieder mal nach Feuer roch, oder etwas kaputt gegangen war. Direkt danach gab es Abendessen, wo ich eine halbe Stunde lang meine Wut und meinen Zynismus wiederum an ihm ausgelassen habe. Und irgendwann ist er dann beleidigt aufgestanden und hat 3 Tage nicht mit uns geredet, weil er halt auch keine sinnvollen Argumente hatte. Dieser Zyklus wiederholte sich immer wieder und irgendwann wollte meine Mutter ihm sogar heimlich Psychopharmaka ins Essen mischen, weil sie der Meinung war, das mein Vater emotional gestört ist.

Dabei wusste er einfach nicht, wie er mit uns umgehen sollte. Er litt selbst unter mittelschwerem Narzissmus und hatte deshalb das Problem, das er immer nur seine eigene Perspektive kannte und sich als Held der Arbeit aufstellen musste, in der Hoffnung wenigstens Zuhause etwas Bewunderung zu erfahren, was leider nicht funktionierte. Er hat uns Kinder nie gefragt, wie es uns geht, was wir fühlen oder wie wir über ihn und die Welt denken. Er konnte auch überhaupt nicht zuhören, sondern immer nur von sich, seinem Stress auf Arbeit und von seinen Ansichten erzählen. Eigentlich eine Verschwendung von Vaterschaft, denn so konnten wir gar nichts von ihm annehmen und ihn auch nicht lieben.

Irgendwann schlug meine Trauer über die physische und emotionale Abwesenheit meines Vaters in Wut und Hass auf ihn um. Das habe ich natürlich als Kind nicht verstanden, aber umso deutlicher gefühlt. Dieser Schmerz war auch der Grund, warum ich lange Zeit keine eigenen Kinder wollte: Die Vorstellung, das mich mein eigenes Kind über Jahre so hassen könnte, wie ich meinen Vater, war einfach zu schlimm für mich. Es hat viel Therapie und Innenschau gebraucht, um zu verstehen, das ich ja nicht so bin wie er und das Vaterschaft ja auch etwas schönes sein kann. Die Aussprache und Aussöhnung mit meinem Vater war ein wesentlicher Teil dieser Wandlung. Auch wenn er meine gesamte Kindheit verdrängt hatte und sich an keine seiner Ohrfeigen und Demütigungen erinnern konnte, die ich zur Sprache brachte.

Thomas