Wie räumliche Distanz Paare näher bringt

Ich erinnere mich noch genau an den Moment, als mir klar wurde, wie wenig ich eigentlich über Beziehungen wusste. Es war an einem lauen Sommerabend, ich saß auf meiner Terrasse und dachte über meine erste gescheiterte Beziehung nach. Plötzlich traf mich die Erkenntnis wie ein Blitz: Wir waren nicht an zu wenig Liebe gescheitert, sondern an zu viel Nähe.

In unserer Gesellschaft wird oft ein Bild der perfekten Partnerschaft propagiert, in dem zwei Menschen symbiotisch miteinander verschmelzen, jede freie Minute miteinander verbringen. Doch je länger ich darüber nachdachte, desto klarer wurde mir, dass dieses romantisierte Bild selten der Realität entspricht – und vielleicht sogar schädlich für die Entwicklung einer gesunden, langfristigen Beziehung sein kann.

Das emotionale Nähe in Liebe und Beziehung sehr wichtig ist, um einander wirklich zu begegnen, ist allgemein bekannt und akzeptiert. Dass aber Distanz zum Partner und Raum zum Alleinsein ebenso essentiell sind, wird dagegen gerne vergessen. 

So ziehen Paare zusammen, und geben all ihrem Besitz einen eigenen Platz, nur sich selbst nicht. Gemeinsames Schlafzimmer, gemeinsames Wohnzimmer, gemeinsame Küche. Sie richten ihre ganze Wohnung auf Gemeinsamkeit aus, weil sie vielleicht gerade frisch verliebt sind und im Moment nichts anderes wollen, als Nähe.

Doch in jeder Beziehung kommt irgendwann der Punkt, an dem jeder wieder seine eigene Identität leben will und auch gerne wieder ganz allein im eigenen Bett schläft, seine Freunde auch gerne mal alleine trifft und auch sein eigenes Zimmer einrichten will. Wenn dann die Wohnung nicht darauf ausgelegt ist, weil es nur ein Schlafzimmer und ein Wohnzimmer gibt, dann ist Zusammensein ein Pflichtprogramm und der Beziehungsstress ist vorprogrammiert.

Als ich mit 18 bei meinen Eltern aus- und mit meiner Freundin in eine gemeinsame Wohnung einzog, hatten wir auch nur ein gemeinsames Wohnzimmer, ein gemeinsames Schlafzimmer und eine gemeinsame Küche. Das war Anfangs auch perfekt, weil wir frisch zusammen waren und ich kein Bedürfnis nach einem eigenen Zimmer hatte.

Doch nachdem die ersten euphorischen Monate vorüber waren, wuchs mein Bedürfnis nach Eigenständigkeit und Alleinsein wieder. Manchmal wollte ich einfach nur alleine im Wohnzimmer sein, ohne die Gegenwart meiner Partnerin. Da ich es aber als unpassend empfand, meine Freundin zu bitten ins winzige Schlafzimmer oder in die Küche zu gehen, sagte ich nichts.

Ich hoffte, das Bedürfnis nach Alleinsein würde einfach vorüber gehen und mir das Gespräch ersparen, indem ich meiner Freundin gestehen musste, dass die Zeit der Beziehungssymbiose eine Pause braucht, weil ich mich selbst wiederfinden will.

So begann ich, mich innerlich zurückzuziehen, ohne es äußerlich zu zeigen. Meine Freundin spürte die Veränderung und interpretierte meinen inneren Rückzug als Ablehnung. Sie wurde wütend, ich fühlte mich missverstanden. Keiner von uns beiden verstand, was wirklich vor sich ging.

Heute weiß ich, dass wir beide in Familien aufgewachsen waren, in denen die Eltern keine eigenen Zimmer hatten. Wir hatten nie gelernt, dass Distanz in einer Beziehung etwas Positives sein kann.

Diesen Fehler wiederholte ich über Jahre hinweg. In einer späteren Beziehung wohnte ich mit meiner Partnerin sogar in einer selbstgebauten Hütte in Costa Rica, die aus nur einem großen Raum bestand. Jeden Abend schliefen wir im gleichen Raum ein, jeden Morgen wachten wir im gleichen Bett auf. Es gab buchstäblich keinen Raum für Individualität.

Unsere Erotik litt massiv darunter. Jegliche Annäherung und Spannung wurde unmöglich, wenn ein Paar jede Nacht ins gleiche Bett steigt. So scheiterte eine weitere Beziehung an zu viel Nähe und zu wenig Distanz – und an mangelnder Kommunikation darüber.

Erst viel später, in Gesprächen mit anderen Paaren, wurde mir klar, dass dieses Problem weit verbreitet ist. Viele Paare gönnen sich nicht das, was sie für ihre Kinder für unabdingbar halten: ein eigenes Zimmer. Und so erstickt jegliche Individualität und Freiheit über die Jahre, und mit ihnen gehen auch die Liebe und die Anziehung verloren.

Ich beobachtete, wie aus zweimal täglichem Sex nach einem Jahr zweimal die Woche wurde, nach zwei weiteren Jahren einmal Pflichtsex im Monat. Und dann, fast unvermeidlich, verliebte sich ein Partner in einen anderen Menschen, der so herrlich unabhängig und eigenständig wirkte.

Erst durch diese schmerzhafte Erfahrung begann ich zu verstehen, wie wichtig es ist, sich gegenseitig zu vermissen. Es kann etwas sehr Schönes sein und belebt die Liebe ungemein. Oft wissen wir erst, wie sehr wir einen Menschen lieben, wenn wir die Chance hatten, allein zu sein und uns nach ihm zu sehnen.

Gerade für die erotische Anziehung habe ich gelernt, wie vorteilhaft es sein kann, wenn sich Partner von Zeit zu Zeit für einige Tage, manchmal auch Wochen, nicht sehen. In dieser Zeit kann jeder wieder ganz zu sich selbst und zu seiner Mitte finden. Und wenn wir uns danach wieder treffen, ist alles so spannend und intensiv wie am Anfang der Beziehung. Es ist, als würden wir uns neu verlieben.

Wahre Nähe zwischen zwei Menschen entsteht aus wahrer Nähe zum eigenen Selbst. Und dafür kann eine räumliche Distanz zum Partner von Zeit zu Zeit sehr hilfreich sein. Denn gerade wenn wir den Partner nicht mehr als Körper-Persönlichkeit vor unseren Augen haben, sind wir angehalten, ihn auch als geistiges Wesen zu sehen.

In dieser Sichtweise liegt all die Liebe, die wir im engen Zusammensein suchen. Deshalb ist die Liebe oft am intensivsten, wenn wir den Partner gerade neu kennengelernt haben und nur sein wundervolles Wesen im Herzen tragen, wenn wir abends alleine einschlafen, weil wir noch nicht körperlich zusammengekommen sind. Und genau diese Zeiten können wir uns auch innerhalb der Beziehung mit ein wenig Distanz schenken.

Je länger ich mich mit dem Thema der räumlichen Distanz in Beziehungen beschäftigte, desto klarer wurde mir, dass es hier um weit mehr geht als nur um getrennte Zimmer oder gelegentliche Auszeiten. Es ist eine Kunst, eine Lebenseinstellung, die das Potenzial hat, Beziehungen auf eine ganz neue Ebene zu heben.

Ich erinnere mich an ein Gespräch mit einem befreundeten Paar, das seit über 30 Jahren verheiratet war. Sie erzählten mir, wie sie vor Jahren beschlossen hatten, separate Schlafzimmer einzurichten. „Am Anfang fühlte es sich seltsam an“, gestand mir die Frau. „Ich dachte, wir würden uns voneinander entfernen. Aber das Gegenteil war der Fall.“ Ihr Mann nickte zustimmend. „Wir schlafen besser, und wenn wir uns im Bett treffen, ist es wie ein Date. Es hat unsere Intimität tatsächlich verbessert.“

Diese Geschichte brachte mich zum Nachdenken. Wie oft klammern wir uns an Vorstellungen von Nähe, die uns eigentlich einengen? Wie oft ersticken wir unsere Beziehungen in dem Versuch, sie zu schützen?

In den folgenden Jahren beobachtete ich immer wieder, wie Paare mit dem Thema Nähe und Distanz umgingen. Ich sah Freunde, die krampfhaft versuchten, jede freie Minute miteinander zu verbringen, nur um dann frustriert festzustellen, dass sie sich nichts mehr zu sagen hatten. Und ich sah andere, die bewusst Freiräume schufen und dadurch eine tiefere Verbindung zueinander fanden.

Ein Schlüsselmoment war für mich die Erkenntnis, dass räumliche Distanz nicht gleichbedeutend mit emotionaler Distanz ist. Im Gegenteil: Oft ermöglicht erst der physische Abstand eine echte emotionale Nähe. Wenn wir uns nicht ständig über den Weg laufen, wenn wir Zeit haben, uns selbst zu begegnen, können wir unserem Partner mit einer ganz anderen Präsenz gegenübertreten.

Ich begann, mit verschiedenen Formen der Distanz zu experimentieren. Manchmal waren es nur kleine Dinge: Ein Abend in der Woche, an dem jeder seinen eigenen Interessen nachging. Ein Wochenende alle paar Monate, an dem einer von uns alleine verreiste. Oder einfach die Erlaubnis, sich auch zuhause zurückzuziehen, ohne dass der andere sich abgelehnt fühlte.

Was ich dabei lernte, war die Wichtigkeit der Kommunikation. Es reicht nicht, einfach nur Abstand zu nehmen. Man muss darüber sprechen, seine Bedürfnisse klar ausdrücken und auch die des Partners hören und respektieren. Ich erinnere mich an heftige Diskussionen, an Momente der Unsicherheit und Angst. Aber ich erinnere mich auch an die tiefe Verbundenheit, die entstand, wenn wir diese schwierigen Gespräche gemeistert hatten.

Ein Freund fragte mich einmal, ob ich keine Angst hätte, dass die Distanz uns auseinanderbringen würde. Ich musste lachen. „Weißt du“, sagte ich ihm, „ich habe eher Angst davor, dass zu viel Nähe uns auseinanderbringt. Dass wir uns in der Routine verlieren, dass wir aufhören, uns wirklich zu sehen.“

Mir wurde auch immer klarer, wie sehr unsere Vorstellungen von Beziehungen kulturell geprägt sind. In manchen Kulturen ist es völlig normal, dass Ehepaare getrennte Schlafzimmer haben. In anderen gilt das als Zeichen einer kaputten Ehe. Ich begann, diese kulturellen Prägungen zu hinterfragen und mich zu fragen, was wirklich zu mir und meiner Beziehung passt.

Letztendlich geht es, so meine ich heute, bei der räumlichen Distanz in Beziehungen um etwas sehr Grundlegendes: um Vertrauen. Vertrauen in sich selbst, in den Partner und in die Beziehung. Es braucht Mut, loszulassen, Freiräume zu gewähren und darauf zu vertrauen, dass die Verbindung dadurch nicht schwächer, sondern stärker wird.

Mittlerweile sehe ich die Fähigkeit, Nähe und Distanz auszubalancieren, als eine der wichtigsten Beziehungskompetenzen überhaupt. Es ist ein ständiger Prozess des Austarierens, des Hinterfragens, des Neuverhandelns. Aber es ist auch ein Prozess, der ungeahnte Tiefen und neue Dimensionen der Liebe eröffnen kann.

Wenn ich heute mit anderen Menschen über diese Themen rede, ermutige ich sie immer, mit verschiedenen Formen der Distanz zu experimentieren. Nicht als Allheilmittel, sondern als Einladung, die eigene Beziehung neu zu entdecken und zu gestalten. Denn letztlich geht es darum, eine Beziehung zu schaffen, in der beide Partner in ihrer Individualität wachsen können und gleichzeitig eine starke, liebevolle Verbindung zueinander pflegen.

In diesem Sinne ist räumliche Distanz für mich nicht eine Bedrohung für die Beziehung, sondern ein wertvolles Werkzeug zu ihrer Stärkung und Vertiefung. Es ist der Raum, in dem wir uns selbst begegnen können, um dann dem anderen wirklich zu begegnen. Es ist der Abstand, der es uns erlaubt, die Schönheit des Ganzen zu sehen. Und es ist die Pause zwischen den Noten, die erst die Musik entstehen lässt.

ER-WACHSEN IN BEZIEHUNG