Zwei Seelen wohnen ach in meiner Brust

Es ist Abend, du kuschelst mit deinem Partner auf dem Sofa. Ihr lacht über eine Szene im Film, alles fühlt sich harmonisch an. Dann fällt eine beiläufige Bemerkung – und plötzlich bist du zurück in einem alten Schmerz. Deine Stimmung kippt, die Worte werden scharf, und ehe du dich versiehst, steckst du mitten in einem Streit. Kennst du das? Ich kenne es nur zu gut.

Was zum Teufel ist da gerade passiert? Wie kann sich eine Situation so rasend schnell von Nähe zu Konflikt wandeln?

Du kennst vielleicht die Geschichte von den zwei Wölfen: Ein weiser alter Mann sagt zu seinem Enkel, dass in jedem Menschen zwei Wölfe leben – ein guter und ein böser. Der gute Wolf steht für all das Schöne: Liebe, Mitgefühl, Verständnis. Der böse Wolf verkörpert unsere dunklen Seiten: Wut, Eifersucht, Angst. „Die beiden kämpfen ständig miteinander“, erklärt der Alte. Der Junge fragt: „Und welcher Wolf gewinnt?“ Die Antwort ist so simpel wie tiefgründig: „Der, den du fütterst.“

In unserem Beispiel auf dem Sofa haben wir – ohne es zu merken – den „bösen Wolf“ gefüttert. Wir haben uns von alten Verletzungen und negativen Gefühlen überwältigen lassen. Aber wie schaffen wir es, den „guten Wolf“ zu nähren? Wie können wir in schwierigen Momenten bei unserer liebevollen Seite bleiben?

Um das zu verstehen, müssen wir einen Blick auf die zwei fundamentalen Stimmen in uns werfen: die Kopfstimme und die Herzstimme. Sie bestimmen maßgeblich, wie wir auf Situationen reagieren und mit unseren Gefühlen umgehen:

Die Kopf-Stimme

Die Kopf-Stimme ist jene innere Instanz, die wir oft als unseren „Verstand“ bezeichnen. Sie ist der Sitz unserer rationalen Gedanken, aber auch unserer reflexartigen Reaktionen. In dem Moment, als du dich auf dem Sofa plötzlich angegriffen fühltest, war es höchstwahrscheinlich deine Kopf-Stimme, die das Ruder übernahm.

Diese Stimme ist tief geprägt von unseren vergangenen Erfahrungen. Sie ist wie ein eifriger Bibliothekar, der blitzschnell alle ähnlichen Situationen aus unserem Lebensarchiv hervorzerrt und uns zuruft: „Achtung! Gefahr! Das hier kennst du schon!“ Dabei ist sie nicht bösartig – im Gegenteil. Sie versucht uns zu schützen, indem sie auf bewährte Strategien zurückgreift.

Doch diese Strategien sind oft veraltet. Sie stammen aus Zeiten, in denen wir vielleicht tatsächlich schutzlos oder hilflos waren. Die Kopf-Stimme reagiert impulsiv und reaktiv. Sie versetzt uns in einen Zustand von Kampf, Flucht oder Starre – Reaktionsmuster, die in der Urzeit überlebenswichtig waren, in einer Beziehung auf dem Sofa aber selten angemessen sind.

Die Kopf-Stimme ist natürlich nicht „böse“. Sie ist ein Teil von uns, der eine wichtige Funktion erfüllt. Sie hilft uns, den Alltag zu meistern, schnelle Entscheidungen zu treffen und uns in bekannten Situationen zurechtzufinden. Doch in emotionalen Momenten kann sie uns auch in die Irre führen, uns in alte Muster verstricken und den Blick für das Wesentliche verstellen.

Die Herz-Stimme

Die Herz-Stimme hingegen ist jene innere Weisheit, die tiefer in uns wurzelt als unsere konditionierten Reaktionen. Sie ist verbunden mit unserem authentischen Selbst, unserer Seele, wenn du so willst. Während die Kopf-Stimme oft laut und fordernd ist, flüstert die Herz-Stimme sanft, aber beständig.

In dem Moment auf dem Sofa, als du dich verletzt fühltest, war die Herz-Stimme vielleicht kaum zu hören. Doch wenn du innehältst und lauschst, wirst du sie finden. Sie ist es, die dich daran erinnert, dass dein Partner dich liebt und nicht verletzen wollte. Sie ist es auch, die dich einlädt, deine wahren Gefühle zu spüren und auszudrücken, anstatt in Vorwürfen oder Rechtfertigungen zu versinken.

Die Herz-Stimme steht im Einklang mit dem, was ist. Sie urteilt nicht, sondern nimmt wahr. Sie kämpft nicht gegen Gefühle an, sondern lädt uns ein, sie vollständig zu fühlen und dadurch zu integrieren. Wo die Kopf-Stimme in Kategorien von „richtig“ und „falsch“ denkt, sieht die Herz-Stimme das größere Bild. Sie erkennt die Verbundenheit aller Dinge und aller Menschen.

Es ist diese Stimme, die uns befähigt, wahrhaft erwachsen in Beziehungen zu sein. Sie ermöglicht es uns, Verantwortung für unsere Gefühle zu übernehmen, ohne den anderen dafür verantwortlich zu machen. Sie hilft uns, empathisch zu sein, ohne uns selbst dabei zu verlieren.

Die Herz-Stimme zu kultivieren, ist eine Lebensaufgabe. Es erfordert Mut, Geduld und Übung. Doch je mehr wir lernen, auf sie zu hören, desto reicher und erfüllender werden unsere Beziehungen – zu uns selbst und zu anderen.

Was würde Goethe dazu sagen

Goethe hat es in seinem „Faust“ wunderbar auf den Punkt gebracht: „Zwei Seelen wohnen, ach! in meiner Brust.“ Dieses innere Hin-und-her-gerissen-Sein zwischen Verstand und Gefühl – ich kenne es nur zu gut. Wie oft habe ich mich in meinen früheren Beziehungen gefühlt, als würden zwei Teile in mir gegeneinander kämpfen! Der eine Teil wollte Nähe und Verbindung, der andere schrie: „Lauf weg, bevor du wieder verletzt wirst!“

Dieses Dilemma, diese Spannung zwischen Kopf und Herz, ist zutiefst menschlich. Wir alle kennen das Gefühl, innerlich zerrissen zu sein zwischen dem, was unser Verstand uns einflüstert, und dem, wonach unser Herz sich sehnt. Wie die beiden Wölfe oder Goethes „zwei Seelen“ ringen diese Stimmen ständig um die Vorherrschaft in unserem Inneren.

Aber – und das ist die gute Nachricht – wir müssen uns nicht für eine Seite entscheiden. Es geht nicht darum, den Kopf auszuschalten oder das Herz zum Schweigen zu bringen. Die wahre Kunst liegt darin, beide Stimmen zu hören und in Einklang zu bringen. Den „guten Wolf“ zu nähren, ohne den „bösen“ zu verleugnen. Die Vernunft des Kopfes mit der Weisheit des Herzens zu verbinden.

Ich weiß, das klingt erst mal schön und gut – aber wie soll das in der Praxis funktionieren? Keine Sorge, genau darum geht es in diesem Kapitel. Ich werde dir zeigen, wie du diese beiden inneren Stimmen besser kennenlernen und sie Schritt für Schritt in Einklang bringen kannst. Nicht nur in deinen Beziehungen, sondern in deinem ganzen Leben.

Der Weg von der Kopf- zur Herz-Stimme

Stell dir vor, du nimmst dir in der aufgeladenen Situation auf dem Sofa einen Moment Zeit. Du atmest tief durch und richtest deine Aufmerksamkeit nach innen. In diesem Moment vollziehst du den Übergang von der Kopf- zur Herz-Stimme. Anstatt dich in Gedanken zu verlieren, lauschst du auf die leisere Stimme in dir, die Stimme deines Herzens. Was hat sie dir zu sagen?

Vielleicht merkst du, dass unter deiner anfänglichen Wut Verletzlichkeit und Angst liegen. Vielleicht spürst du auch ein tiefes Bedürfnis nach Verbindung und Verständnis. Indem du diese Gefühle durchfühlst – nicht durchdenkst – öffnest du einen Raum für echte Begegnung.

Von diesem Ort der inneren Weisheit aus kannst du deinem Partner ganz anders begegnen. Anstatt in eine Verteidigungshaltung zu gehen, kannst du deine Verletzlichkeit zeigen und gleichzeitig Mitgefühl für deinen Partner entwickeln. Du erkennst, dass auch in ihm oder ihr diese zwei Seelen wohnen – die der Kopf-Stimme und die tiefere Weisheit der Herz-Stimme.

Diese Fähigkeit, inne zu halten und auf die Stimme des Herzens zu hören, ist wie ein Muskel, den wir trainieren können. Je öfter wir es üben, desto leichter fällt es uns, auch in herausfordernden Situationen Zugang zu unserer Herz-Stimme zu finden.

Ich erzähle dir das nicht, weil ich immer auf meine Herz-Stimme höre. Bei weitem nicht. Ich erzähle dir das, weil ich den Unterschied kenne – den Unterschied zwischen einer Beziehung, die von der Kopf-Stimme dominiert wird, und einer, in der die Herz-Stimme Raum bekommt. Der Weg dorthin war nicht einfach. Er führte durch dunkle Täler der Selbstkonfrontation und über steile Berge der Veränderung. Doch jeder Schritt war es wert.

Beziehungen bieten uns unzählige Gelegenheiten, diesen Muskel zu stärken. Jeder Konflikt, jedes Missverständnis ist eine Einladung, uns auf unser Herz zu besinnen. Wenn wir lernen, unsere Gefühle wirklich zu fühlen und gleichzeitig der Weisheit unseres Herzens zu vertrauen, können wir tiefere und authentischere Verbindungen zu unseren Liebsten aufbauen.

Erinnere dich also das nächste Mal, wenn du dich in einer schwierigen Situation wiederfindest: Du hast die Wahl. Du kannst in der automatischen Reaktion der Kopf-Stimme verharren oder einen Schritt zurücktreten und auf die Stimme deines Herzens hören. In diesem Raum der Stille und des Fühlens liegt der Schlüssel zu echter Verbundenheit – mit dir selbst und mit anderen.

Wir befinden uns in einer Zeit des Umbruchs, in der alte Beziehungsmodelle nicht mehr funktionieren und neue erst entstehen. In diesem Wandel liegt eine große Chance: die Chance, Beziehungen zu gestalten, die sowohl die Weisheit der Kopf-Stimme als auch die Tiefe der Herz-Stimme integrieren. Es ist ein Weg, der „Cojones“ erfordert, aber er führt zu einer Qualität von Beziehung, die erfüllender ist, als wir es uns je erträumt haben.

ER-WACHSEN IN BEZIEHUNG